Sachverhalt
Das Jahr 2020 begann mit einem Ereignis, das schnell die ganze Welt „befiel“ und deren Folgen bis heute nachklingen: die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2. Zur Bekämpfung der Pandemie und zum Schutz der Bevölkerung verabschiedete der Deutsche Bundestag mehrere Gesetzesvorhaben, u.a. das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite am 22. April 2021 (“Bundesnotbremse”). Damit wurden in § 28b Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2 Infektionsschutzgesetz (IfSG) weitreichende Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen normiert, deren Inkrafttreten von der Anzahl der Neuinfektionen mit dem Corona-Virus je 100.000 Einwohner binnen 7 Tagen (sog. Sieben-Tage-Inzidenz) abhängig gemacht wurde und zwar wie folgt:
Wenn die Sieben-Tage-Inzidenz in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an 3 aufeinanderfolgenden Tagen den Schwellenwert von 100 überschritt, wurden die Beschränkungen automatisch aktiv; sobald die Sieben-Tage-Inzidenz an 5 aufeinanderfolgenden Tagen unter den Wert von 100 sank, traten die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen wieder außer Kraft. Verstöße waren gemäß § 73 Abs. 1a Nr. 11b und 11c IfSG bußgeldbewehrt. Die Beschränkungen dieser “Bundesnotbremse” waren bis zum Ablauf des 30. Juli 2021 befristet. Zu einer Verlängerung kam es nicht.
Viele Menschen waren mit den Beschränkungen nicht einverstanden und wandten sich daher an das Bundesverfassungsgericht. In ihren Verfassungsbeschwerden rügten sie die Verletzung ihrer Grundrechte, insbesondere die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz von Ehe und Familie), Art. 2 Abs. 2 GG (Freiheit der Person), Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Allgemeines Persönlichkeitsrecht) sowie Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit). Zur Begründung führten sie im Wesentlichen an, dass die Sieben-Tage-Inzidenz das tatsächliche Infektionsgeschehen gar nicht abbilde und daher keine wissenschaftlich fundierte Grundlage darstelle. Die Regelungen würden zudem erheblich in ihre persönliche Lebensgestaltung eingreifen, da es bei einer Inzidenz von mehr als 100 nicht mehr möglich sei, sich mit allen Familienmitgliedern und Freunden zu treffen oder sich nach 22:00 Uhr unbeschwert draußen aufzuhalten. Dies sei unverhältnismäßig.
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Entscheidung
Das Bundesverfassungsgericht entschied über die Verfassungsbeschwerden mit Beschluss vom 19. November 2021 (Az. 1 BvR 781/21, 1 BvR 889/21, 1 BvR 860/21, 1 BvR 854/21, 1 BvR 820/21, 1 BvR 805/21, 1 BvR 798/21; BVerfGE 159, 223). Eine Verfassungsbeschwerde wurde bereits als unzulässig verworfen, die anderen wurden als unbegründet zurückgewiesen. Der Erste Senat kam einstimmig zu dem Ergebnis, dass die Beschränkungen verfassungsgemäß gewesen seien.
Die Kontaktbeschränkungen hätten zwar in das Recht gemäß Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) eingegriffen, sich mit seinen Angehörigen resp. seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zu treffen. Auch sei in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Allgemeines Persönlichkeitsrecht) sowie Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit) dergestalt eingegriffen worden, dass einzelne Personen zur Einsamkeit gezwungen wurden und auch familienähnlich intensive Bindungen jenseits des Schutzes von Ehe und Familie nicht mehr gepflegt werden konnten.
Die Ausgangsbeschränkungen hätten zwar in Art. 2 Abs. 2 GG (Freiheit der Person) eingegriffen, da auch staatliche Maßnahmen mit lediglich psychisch vermittelt wirkendem Zwang einen Eingriff darstellen würden. Zudem sei erneut in Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) sowie Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit) eingegriffen worden.
Sämtliche Eingriffe seien jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt gewesen. Schon die Ausgestaltung der Beschränkungen als selbst-vollziehende gesetzliche Regelungen verletzte weder die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes, noch verstoße diese gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung oder das Allgemeinheitsgebot gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG. Insbesondere seien die Eingriffe auch verhältnismäßig gewesen.
Die Beschränkungen hätten dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bürger sowie einer Überlastung des Gesundheitssystems gedient und damit einen legitimen Zweck verfolgt. Wenn wegen Unwägbarkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnislage die Möglichkeiten des Gesetzgebers begrenzt seien, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, genüge es daher, wenn er sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung der ihm verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten orientiert. Dem Gesetzgeber komme insofern ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu, der vorliegend verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei.
Die Beschränkungen seien im Übrigen auch geeignet, erforderlich und angemessen, mithin verhältnismäßig im engeren Sinne gewesen. Die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen seien Gemeinwohlziele von überragender Bedeutung gewesen. Diesen habe der Gesetzgeber auch nicht einseitig Vorrang eingeräumt, sondern mit der Anknüpfung an die Sieben-Tage-Inzidenz sowie der zeitlichen Befristung der Beschränkungen vielmehr in einen verfassungsgemäßen Ausgleich mit den Grundrechtsbeeinträchtigungen der Beschwerdeführer gebracht.
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Anmerkungen
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse war mit Spannung erwartet worden, insbesondere nachdem im Vorfeld ein gemeinsames Abendessen der Verfassungsrichter mit dem Bundeskabinett im Bundeskanzleramt für erhebliche Irritationen und erfolglose Ablehnungsgesuche sorgte. Das Ergebnis wurde sowohl von der Presse, als auch der Fachwelt eher verhalten aufgenommen. Kritiker bemängelten dabei weniger das Ergebnis, sondern vielmehr den juristischen (Prüfungs-)Weg dorthin. Viele überzeugte die hunderte Seiten lange, aber inhaltlich doch stellenweise recht „kursorische“ Begründung schlichtweg nicht (nachlesen lohnt sich trotzdem).
Der Sachverhalt gibt jedoch nicht nur Anlass zur ausführlichen Argumentation (immer examensrelevant: Prüfungstiefe!), sondern eignet sich auch hervorragend, um grundsätzliche Fragen wie den Stellenwert der Grundrechte und die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zu beantworten – insbesondere in schriftlichen und mündlichen Prüfungssituationen. Eine perfekte Unterstützung ist hierfür der Crashkurs Grundrechte.