Sachverhalt
Barbara Emme („Emmely“) arbeitete seit dem Jahr 1977 im Einzelhandel als Kassiererin. Seit dem Jahr 1993 war sie in einer Filiale der Supermarktkette Kaiser‘s Tengelmann in Berlin beschäftigt. Am 12. Januar 2008 fand eine Kollegin zwei nicht eingelöste Pfandbons im Wert von 0,48 EUR und 0,82 EUR, die sie dem Filialleiter übergab. Dieser reichte die Bons an Emmely weiter und bat sie, die Pfandbons aufzubewahren und an den berechtigten Kunden herauszugeben. Wenn dieser nicht mehr zurückkommt, sollte sie die Bons als „Fehlbons“ verbuchen.
Am 22. Januar 2008 kaufte Emmely privat in ihrer Filiale ein. An der Kasse löste sie zwei Pfandbons im Wert von ebenfalls 0,48 EUR und 0,82 EUR ein. Aufgrund der Wertidentität fanden in der Folge vier Personalgespräche mit Emmely statt, um die Herkunft der Bons zu klären. Die Personalverantwortlichen hielten Emmely vor, es bestehe der dringende Verdacht, dass sie die am 12. Januar 2008 vergessenen Pfandbons eigenmächtig an sich genommen und 10 Tage später bei ihrem Privateinkauf eingelöst habe. Emmely bestritt dies und behauptete, die Bons könnten ihr auch von einer ihrer Töchter oder einem Dritten heimlich zugesteckt worden sein.
Nachdem Emmely am 22. Februar 2008 fristlos, hilfsweise fristgemäß zum 30. September 2008, gekündigt wurde, erhob sie Kündigungsschutzklage zum Arbeitsgericht Berlin.
Entscheidung
Das Arbeitsgericht Berlin wies die Klage in erster Instanz ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass bereits die fristlose Kündigung rechtmäßig gewesen sei. Es bestehe der dringende Verdacht einer Straftat zum Nachteil des Arbeitgebers. Die Kammer sei nach der Beweisaufnahme sogar davon überzeugt, dass Emmely die ihr vom Filialleiter anvertrauten Pfandbons unberechtigterweise eingelöst habe. Auch wenn der Vermögensschaden sehr gering sei, könne das Vertrauensverhältnis nicht mehr wiederhergestellt werden, insbesondere da Emmely immer wieder geäußert habe, dass geringfügige Vermögensstraftaten nie eine Kündigung rechtfertigen könnten.
Die Berufung zum Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg blieb ohne Erfolg. Die Berufungskammer schloss sich den Ausführungen der Vorinstanz an und stellte ergänzend fest, dass von einer Kassiererin absolute Zuverlässigkeit und Korrektheit im Umgang mit der Kasse, den Buchungen, dem Geld und Leergutbons erwartet werde. Der einzelne Wert spiele dagegen keine Rolle, sodass der Arbeitgeber auch geringfügige Vermögensdelikte nicht tolerieren müsse.
Auf die Revision von Emmely gab der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts mit Urteil vom 10. Juni 2010 (Az. 2 AZR 541/09; BAGE 134, 349) der Kündigungsschutzklage von Emmely unter Aufhebung des Berufungsurteils des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg statt. Der Senat stellte zwar zunächst klar, dass auch geringfügige Vermögensdelikte bereits „an sich“ i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB geeignet seien, um eine fristlose Kündigung auszusprechen. Allerdings führe die stets vorzunehmende Einzelfallprüfung und Interessenabwägung vorliegend dazu, dass die einmalige Pflichtverletzung von Emmely das über 31 Jahre lang aufgebaute Vertrauensverhältnis noch nicht völlig „aufgezehrt“ habe. Der Arbeitgeber hätte lediglich eine Abmahnung aussprechen dürfen.
Anmerkungen
Der Fall Emmely ist inzwischen ein absoluter Klassiker im Arbeitsrecht und wurde seinerzeit in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Im Kern ging es dabei um die Frage, ob auch sog. „Bagatelldelikte“ eine fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen (auch “Bagatellkündigungen”). Entgegen mancher Presseberichterstattung hat dies der erkennende 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts im 1. Leitsatz der Entscheidung ausdrücklich bejaht und die ausgesprochenen Kündigungen lediglich wegen des mehr als 31 Jahre langen und bis dahin beanstandungsfreien Arbeitsverhältnisses für unverhältnismäßig erklärt.
Arbeitsrechtliche Klausuren sind während des Studiums keine Seltenheit und insbesondere im 1. und 2. Examen an der Tagesordnung. Der Schwerpunkt besteht regelmäßig darin, die widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung des Grundsatzes „Arbeitsrecht ist Arbeitnehmerschutzrecht“ gegeneinander abzuwiegen und einer vertretbaren Lösung zuzuführen. Um die Grundlagen des Arbeitsrechts zu lernen, empfehle ich meinen Crashkurs Arbeitsrecht, in dem Du in nur 2,5 Stunden einen perfekten Überblick über das Individualarbeitsrecht bekommst.
Lösungsskizze
A. Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage
- Rechtsweg, § 2 I Nr. 3b ArbGG (+)
- Örtliche Zuständigkeit, § 48 ArbGG (+)
- Statthaftigkeit der Kündigungsschutzklage, § 4 KSchG
- Feststellungsinteresse, §§ 46 II ArbGG (+)
B. Begründetheit der Kündigungsschutzklage
- Wirksames Arbeitsverhältnis (+)
- Wirksame außerordentliche Kündigung, § 626 Abs. 1 BGB
- Formgerechte Kündigungserklärung, § 623 BGB (+)
- Fristgerechte Kündigung, § 626 Abs. 2 BGB
- Anhörung des Betriebsrates, § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG (+)
- Fristgerechte Kündigungsschutzklage, §§ 4, 5, 7, 13 KSchG (+)
- Problem: Wichtiger Grund, § 626 Abs. 1 BGB
- Pflichtverletzung ist bereits „an sich“ für eine fristlose Kündigung geeignet (+)
- Verhältnismäßigkeit und Interessenabwägung nach BAG (-)
- Ordentliche Kündigung, §§ 622, 1 ff. KSchG
- i.E. (-) mangels Verhältnismäßigkeit/Interessenabwägung